sabato 2 maggio 2015

Was mich leitet [I]


Individuen kann man bekanntlich
daran erkennen, daß sie
einen Knick in der Optik haben.

Sie gewinnen allen
öffentlich zugänglichen Dingen
und Ereignissen
einen zweiten Sinn ab,
der zunächst einmal
nur für sie selbst zugänglich ist.

In dieser höchst persönlichen Optik
mag dann etwa
als Langsamkeit eines Mitmenschen
erlebt werden,
was dieser der Ungeduld
des Erlebenden selbst zurechnen würde.

Besonders konsensfähig
ist diese individualisierte Art
des Erlebens also nicht.

Immerhin kann der Fall eintreten,
daß ein anderer,
statt einfach nur mit dem Kopf
zu schütteln,
sich in meine Weltsicht hineinversetzt
und dann sogar anfängt,
sie durch eigenes Handeln zu bestätigen:

Statt mir Ungeduld vorzuwerfen,
handelt er selbst etwas schneller.

Für die anderen
ist mein Erleben dann immer
noch unmaßgeblich,
aber für den anderen hat es offenbar
die Kraft eines starken Motivs.

So wird es mir leichter gemacht,
der zu sein, der ich bin.

Diese Bestätigung fremden Erlebens
durch eigenes Handeln
bildet die kommunikative Grundlage
dessen, was wir Liebe nennen.


(© Niklas Luhmann, 1982)